Nun also zum Experiment mit dem längeren Text:
Mutterboden
Er war spät dran. Sie würde schon auf ihn warten. Ein letztes Packet hatte er noch auszuliefern, dann hätte er die heutige Tour überstanden. Vor seinem geistigen Auge sah er Frau Nold, knapp 90 Jahre alt, wie sie ihn, in der Mitte ihres chaotischen Zimmers stehend, erwartete: klein, schlank und agil, mit am Körper anliegenden gestreckten Armen, fast militärisch. Von unten würde sie fragend zu ihm aufschauen und auch im Gespräch würden ihre Arme ihre gestreckte Position nicht verlassen.
„Das darf doch nicht war sein, es hat geblitzt“ schimpfte er laut, bremste den Kleintransporter und bemerkte sofort, dass er in eine Stadt bekannte Radarfalle gefahren war. Er hatte einen Moment nicht aufgepasst. Dies war das zweite Mal innerhalb eines Monats. Das konnte ihn den Job kosten. Er fuhr rechts ran und hämmerte einige Male mit seinen Fäusten auf sein Lenkrad ein. „Warum?“, schrie er so laut, dass er einen Hustenanfall bekam. Vergeblich versuchte er sich zu beruhigen. Wer würde ihn noch einstellen mit seinen 46 Jahren, dicklich wie er geworden war, mit den grauen Haaren, die ihn älter erscheinen ließen. Als Harz IV-Bezieher würde er seine Wohnung nicht halten können. Zitternd setzte er seinen Lieferwagen wieder in Bewegung, lieferte das Packet aus und stellte den Wagen auf dem Firmenparkplatz ab. Glücklicherweise zählte er heute zu den Letzten, so dass er nur wenigen Kollegen ausweichen musste. Was sollte er tun? Er musste wieder zum Blitzer, vielleicht würde ihm dort etwas einfallen.
Da er die letzten Meter zu Fuß gehen wollte, verließ er schwitzend die Straßenbahn. Als er seinen Magen spürte, musste er an ihren Hunger denken. Er war fast zwei Stunden über der Zeit und hatte noch nicht einmal eingekauft. Trotz ihrer Lebhaftigkeit hatte Frau Nold ihre Wohnung seit über einem Jahr nicht mehr verlassen. Nachdem sie bei Kriegsende aus Siebenbürgen geflohen war, wurde sie in Deutschland nie richtig heimisch; wahrscheinlich wurde sie auf Grund ihres hartnäckigen Akzentes ausgegrenzt. Irgendwann war sie dazu übergegangen sich selbst abzukapseln. Er empfand ihre Wohnung mit den zahllosen Stapeln aus Büchern, Zeitschriften und Prospekten immer als eine Art Schutzburg. Jetzt würde sie hungrig sein. Schon gestern hatte sie keine Vorräte mehr, und er vermied es auch bei ihr welche anzulegen, da er Lebensmittel nicht selten Monate später hinter einem der Zeitschriftenstapel in ungenießbarem Zustand wieder fand. Schweißnass erwachte er aus seinen Gedanken. Er hatte die Kreuzung passiert und näherte sich dem Blitzer. Langsam, als ob er etwas auf dem Boden suchte, ging er an ihm vorbei, während er ihn aus den Augenwinkeln gründlich musterte. Der gehasste Kasten befand sich etwa in zwei Meter Höhe und schien sehr massiv zu sein. Der wundeste Punkt würde wohl die Stange sein, auf der der Kasten mit dem Film montiert war. Im Moment, ohne Werkzeug, konnte er nichts tun. Immerhin dämmerte es schon. Der Herbst zeigte sich von seiner vorteilhaften Seite.
Zu Hause durchsuchte er panikartig die Besenkammer nach passendem Werkzeug. Seinen knurrenden Magen ignorierend, betrachtete er eine Handmetallsäge. „Zu langsam“, dachte er. Dann fand er, was er gesucht hatte: die Flex mit Benzinmotor. Der Tank war gut gefüllt. Allerdings reinigte er den Trennschleifer gründlich mit Spiritus, um Fingerabdrücke zu vermeiden. Wer konnte schon wissen, wie diese Nacht weiter verlief. Von weitem bemerkte er das penetrante Blinken seines Anrufbeantworters. Frau Nold würde bereits mehrmals angerufen haben. Im Moment hatte er keinen Kopf für sie, wenigstens einmal musste sie ohne ihn zu Recht kommen. Zum ersten Mal ärgerte er sich über sie. Seit sich ihre Wege vor etwa drei Jahren in dem kleinen Supermarkt in der Nähe ihrer Wohnung gekreuzt hatten und er ihr die Tüten nach Hause getragen hatte, war sie zu einem Lebensinhalt geworden. Während er noch eine alte Sporttasche für die Flex suchte, hielt er inne: diese diffuse Befriedung darüber, dass sie ihn brauchte, erschien ihm plötzlich schal, fast peinlich. Er hatte sonst nichts zu tun gehabt. Er würde sie also nicht anrufen, sondern lieber selber noch eine kleine Stärkung zu sich nehmen. So nervös wie er war, musste er sich zwingen überhaupt etwas zu essen. Er zog sich seine alten Lederhandschuhe an, packte die Flex in die ausgeleierte Sportasche und machte sich auf den Weg. Es war kur vor eins.
Sobald er am Blitzer angekommen war, packte er den Trennschleifer aus, warf ihn an und machte sich an die Arbeit. Vereinzelt fuhren noch Autos vorbei und der Lärm dröhnte in all seinen Gliedern. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Polizei riefe. „Auch 60 Jahre nach Hitler, hat dieses Land noch tausend Augen“, pflegte Frau Nold immer zu sagen. Da er den Trennschleifer so hoch wie möglich hielt, spürte er zunehmend das Gewicht der Maschine. Er zitterte, biss erst die Zähne aufeinander, schrie dann gegen den Lärm an, doch bei 12000 Umdrehungen pro Minute war der Mast schneller als erwartet durchtrennt. Der Blitzerkasten fiel krachend zu Boden. Gerade noch rechtzeitig konnte er seinen Fuß zurückziehen. Den Kasten packte er so in seine Sporttasche, dass das letzte Stück des Masts herausschaute. In der Ferne hörte er schon das Martinshorn. Es war höchste Zeit zu verschwinden. Den Trennschleifer ließ er zurück, denn er war vor so langer Zeit gekauft worden, dass er damit keine Spuren hinterlassen würde. Glücklicherweise war der Waldrand nicht weit und er schlug sich in das Unterholz. Der Schweiß triefte seine Stirn hinab und drohte ihm die Sicht zu nehmen. „Als ob der Wald nicht schon dunkel genug ist“, fluchte er. Warum war der Blitzer so schwer? Warum war er so ein verdammter Schwächling? Wie hätte er denn im Mittelalter überlebt. Er musste diese Tasche tragen können. Er nahm sie in seine Arme, drückte den Kasten mit dem verräterischen Foto an die Brust, musste aber trotzdem immer wieder absetzen. Sein ganzes Leben lang hatte er nicht auffallen wollen. Er arbeitete, sparte Geld für später, auch wenn er von diesem Später keine konkrete Vorstellung besaß. Etwas wie Gefängnis war darin allerdings keinesfalls vorgesehen. Wie im Fieberwahn schleppte er sich und die Tasche weiter. Im großen Bogen näherte er sich dem Fluss, musste aber schließlich den Wald verlassen. Während er sich an die Nebenstraßen hielt, bemerkte er, dass sein Blickfeld sich merkwürdig verzerrte. Er musste sich in einer Art Trance-Zustand befinden. Seine Muskeln spürte er nicht mehr, nur in seinem rechten Knie ließ sich ein deutliches Stechen vernehmen. Endlich stand er auf einer Brücke über den Fluss. Weder Mensch noch Auto waren zu sehen, er konnte den Kasten also ins Wasser fallen lassen, ein lautes Aufklatschen, ein Gurgeln, dann Stille. Er drückte die Tasche zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Erleichterung und ein Gefühl der Freiheit breiteten sich schlagartig in ihm aus. Da erschien ihm wieder Frau Nold, in ihrem Zimmer stehend, wie sie ihn anschaute.
Die wenigen Nachstunden, die ihm geblieben waren, schlief er wie ein Stein. Mühsam quälte er sich morgens aus dem Bett, nur kurz hoffte er, dass die letzte Nacht nichts als ein böser Traum gewesen sei. Was würde Frau Nold sagen? In welcher Verfassung würde sie sein? Hatte sie sich dazu durch gerungen bei jemand anderen Hilfe zu suchen, und wenn ja, was würde das für ihn bedeuten? Sollte er überhaupt noch hingehen, wenn das Helfen ihm keine Befriedigung mehr geben konnte? Während seiner Arbeit floss die Zeit nicht nur zäh vor sich hin, sondern er ertappte sich mehrmals dabei, wie er von sich aus langsamer arbeitete, um den Besuch bei Frau Nold herauszuzögern. Schließlich schlenderte er im Supermarkt die Regale entlang, verglich Preise und überlegte was er ihr mitbringen sollte. Er entschied sich für ein halbes Grillhähnchen, das sie immer gerne aß. Nachdem er die Haustüre zitternd aufgeschlossen hatte, stieg er das Treppenhaus hinauf. Obwohl hinter verschieden Wohnungstüren der dumpfe Klang laufender Fernsehapparate zu vernehmen war, begegnete er niemand, überhaupt, wurde es ihm bewusst, war er in diesem Treppenhaus noch nie jemand begegnet. Kurzatmig und schwitzend gelang es ihm nach mehren Anläufen, den Schlüssel in das Schloss ihrer Wohnungstür zu stecken und einzutreten. Sonst hatte er immer geklingelt um sich anzumelden. Zaghaft rief er ihren Namen und begab sich widerwillig ins Wohnzimmer. Da lag sie zu Seite gekippt über einem Haufen Zeitschriften auf ihrem Sofa. Sie sabberte. „Ich bin es, Frau Nold“ flüsterte er und schüttelte sie. Keine Reaktion. Hatte sie einen Schwächeanfall wegen Unterzuckers erlitten? Er horchte nach ihrem flachen Atem und legte seine Hand auf ihren Brustkorb. Sie lebte noch. Augenblicklich beruhigte er sich. Als er in diesem kleinen, nur notdürftig sauber gehaltenen Zimmer seine Blicke über das Chaos gleiten ließ, konnte er nur den Kopf schütteln: „Was mache ich bei dieser Greisin?“
Ihre Vögel waren aufgeregt. Er gab ihnen Wasser und Futter. Auf dem Sofatisch lag ihr Büchlein, dass gleichzeitig als Adress-, Notiz- und Tagebuch diente. Einen Moment lang war er versucht hinein zu schauen, doch er konnte sich ausmalen, was er dort lesen würde: Angst, Zweifel, Vorwürfe. Wahrscheinlich hatte sie sich sogar verraten gefühlt. Die ersten Anzeichen einer aufkeimenden Demenz waren schon erkennbar. Irgendwann würde sie vergessen, dass er schon da gewesen war und ihm Vorwürfe machen, später würde sie ihn nicht mehr erkennen und für einen Eindringling halten. Diese Vorstellung versetzte ihm, nach allem was er für sie getan hatte, einen Stich. Zu guter letzt würde er sie in einem billigen Pflegeheim unterbringen müssen. Alles was er in Zukunft noch für sie tun konnte, würde nur dazu dienen ihr zunehmendes Leiden zu verlängern; falls er wegen dieser Blitzergeschichte nicht sowieso in Knast und Arbeitslosigkeit enden würde.
Der richtige Zeitpunkt, um in Frieden gehen zu können, war gekommen. Er durfte nicht mehr eingreifen. Also kippte er das Fenster und öffnete den Vogelkäfig. Kühle Herbstluft drängte sich ins Zimmer. Ob die Vögel den Weg nach draußen fänden und dort überleben würden? Das musste er dem Schicksal überlassen. Er rüttelte noch einmal an Frau Nold, doch sie kam wohl nicht mehr zu sich. Sicherheitshalber spannte er das Telefonkabel um die Couchtischbeine und lockerte den Stecker nur leicht, so dass es aussehen würde, als ob sie zu stark am Telefon gezogen hätte und sich dabei der Telefonstecker gelöst hätte. Dann packte er ihr Büchlein ein, indem bestimmt auch die Kontakte zu ihm und vor allem seine Telefonnummer festgehalten waren. Unauffällig schlich er sich aus dem Treppenhaus und entfernte sich hastig.
Ist ja ganz schön klein geschrieben, nicht sehr lesefreundlich, aber lassen wir mal so.
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