Sonntag, 28. Dezember 2008
Robert Atzlinger
Rettung und Geburtstermin
Wichtige Neuigkeit: Wir haben mit der Hebamme heute beschlossen, die Geburt am Dienstag einzuleiten!
Hatte eine wunderbare mail von Robert Atzlinger bekommen als Kommentar zu den Christkindern, aber leider hat yahoo gerade Probleme mit dem Server.
Also drückt uns alle die Daumen!
Vielleicht melde ich mich später nochmal.
Hier mal ein Versuch einen etwas längeren Text zu posten, den ich großspurig ein Stück nenne. Viel Glück beim lesen:
DINGSDA
I. ihr seid da draußen wir sind hier drin.
ein riesiges hölzernes pferd. vielleicht auch nur sein kopf.
wir bleiben drin
ja ja
wir kommen nicht raus
nein nein
auf keinen fall
niemals
vergesst es
da könnt ihr warten bis ihr schwarz werdet
oder rot
oder karriert
oder bis das abo ausläuft
noch da
warum eigentlich
ganz ehrlich an eurer stelle wäre ich längst weg
geht einfach heim
zu kind und kugel
kegel
ja kegel
kugel und kegel
geht nach hause
und parkt euren blick in eure eignen abgründe
hier gibt es jedenfalls nichts mehr zu sehen
also nur keine falschen hoffnungen
wir werden nicht nachts hier rausschleichen
und euch aus eurem tiefschlaf aufrütteln
oder euch aufschütteln wie ein federbett
wir gehen nicht mit fleischermessern durch eure schlafzimmer
oder mit roten laternen durch eure geschichtsbücher
wir öffnen nicht eure tore um die plündernden horden über eure Stadt zu bringen
wir legen keine feuer an eure häuser
oder an eure herzen
wir gießen kein öl in eure empörung
wir werfen keine bomben durch eure nächtlichen fenster
hinein in das friedlich stille grauen eurer wohnungen
wir zerreißen nicht die kopfsteinpflaster eurer marktplätze
und nicht die glas und betonfassaden eurer einkaufszentren
um uns dann mit kalten händen und dreckigen fingernägeln für euch durch eure blutigen herzen zu wühlen
auf der suche nach der angst und der schuld in euren gefäßen
wir sind keine engelsflügel mit denen ihr in die gereinigte luft gehen könnt
und wir haben auch keine leitern dabei um euch aufs dach zu steigen
wir tragen keine sieben schüsseln mit wasser
und blasen nicht in sieben trompeten
glaubt also ja nicht dass wir gekommen sind um euch zu verdammen
das werden wir nämlich nicht tun
wir bleiben hier drin
was glaubt ihr denn wer wir sind
und wer ihr seid
selber schuld wenn ihr euch was anderes erhofft habt
wir haben euch jedenfalls nichts versprochen
ihr habt uns zu euch reingeholt
wir haben uns nur aufgestellt vor eurem tor
mit unserer verpackung
dieser wunderschönen dauerhaften verpackung
die wir abgepaust haben aus irgendeinem alten buch
und da standen wir also
und ihr habt uns gesehen
in unserer montur und ihrem unvergänglichen zauber
und ihr seid reingefallen auf uns
als ihr gesehen habt wie verdammt gut wir damit aussehen
da habt ihr euch alle gedacht
das ist ja toll
das ja so toll so unglaublich toll
das ist so wunderschön
und so bedeutsam
das müssen wir haben dieses wunderschöne bedeutsame ding
habt ihr euch gedacht
das müssen wir unbedingt für uns haben für uns ganz allein
so ein schönes messer wäre eine freude für unsere kehlen
habt ihr euch gedacht
und dann habt ihr beschlossen dass ihr uns wollt
ihr habt euch in die hände gespuckt und ihr seid rausgegangen aus eurer stadt
ihr habt einen strick um unseren hals gelegt
und dann habt ihr gezogen
ihr habt alle an einem strang gezogen
bis wir bei euch waren
oder so dachtet ihr es wenigstens
als ihr uns stehengelassen habt auf eurem marktplatz
und seelenruhig zurückgingt
gemachte menschen in gemachte betten
und ihr dachtet den rest würden wir besorgen
die feuer die vernichtung und den krieg würden wir besorgen
aber da habt ihr euch geschnitten
weil ihr euch selbst nicht schneiden wolltet
wir haben uns nur als falle getarnt
wir haben uns augenklappen aufgesetzt auf die gesunden augen
und den krieg haben wir uns mit schminke gemalt in unsere langweiligen gesichter
ihr seid drauf reingefallen
pech gehabt
es war alles umsonst
es hat euch alles nichts gebracht
ihr habt geschuftet und nichts dafür rausbekommen
und nicht weniger als nichts
wir explodieren nicht
wir brennen nicht lichterloh
und leuchten nicht blutrot durch sturmwolken
wir sind blindgänger
wir sind taubgänger und stummgänger
wir halten den mund
wir halten an
und wir halten an uns fest
wir verhungern
wir verdursten
wir ersticken
aber sonst tun wir nichts
also
keine bringschulden meine Lieben
wir können uns auch anschweigen
also das heißt ihr tut was ihr wollt
und wir werden schweigen
ihr könnt eure handflächen gegen einander schlagen und hoffen dass es wie zustimmung klingt
und wir werden schweigen
ihr könnt uns bitten
ein flehen auf den lippen ein flehen in den augen
und mit allem wedeln was eure geldbeutel
und eure tränensäcke hergeben
und wir werden schweigen
ihr könnt erstaunt sein oder empört
könnt zeter und mordio schreien
oder bravo
revolution oder
konterrevolution
was euch einfällt könnt ihr schreien
und wir werden schweigen
aber trotzdem
trotzdem
trotzdem werden wir nicht euch anschweigen
wir werden nicht für euch schweigen und nicht mit euch
wenn wir schweigen dann schweigen wir für uns
allein
das hier hat nichts mit euch zu tun
ihr seid hier draußen und wir sind hier drin
ihr seid hier draußen und wir sind hier drin
ihr seid hier draußen und wir sind hier drin
aber vielleicht tut es ja
gar nichts
II. das ist nicht mein kampf. das kenne ich nicht.
das pferd geht auf. menschen in schicken klamotten kommen heraus und beginnen ein grillfest aufzubauen.
schund schund und schund über schund so weit das auge reicht. und wenn sie kurzsichtig sind meine lieben leser dann sogar noch ein stück weiter. das müssen sie uns jetzt bitte glauben. aber sie wissen ja das ganze leben ist ein text und wir sind nur die schreibmaschienen. man stellt ja auch einem jeden erstbeliebigen backfisch nicht gleich die grätenfrage. und eine feuerleiter am balkon haben heißt nicht unbedingt vor aktualität zu brennen. kunst kommt eben doch von können denn wenn sie von denken käme hieße sie dunst. das ist kein schwank und kein schwanengesang das ist ein unkenruf von unten. nur bitte erwarten sie nicht von uns nur weil wir hier gerade erste zarte dichtertriebe sprießen lassen aus diesem unseren gemeinsamen mund das wir ihnen die nächste große welle der empörung vorhersagen vor dem sicheren binnenmarktshafen ihres herzens. wenn sie eine seismographikkarte ihrer gefühle haben wollen lassen sie ihren rechner aufstocken im lebensvermittlerdiskont und holen sich ihre performance da ab. das ist ihnen zu blöde? nun seien sie doch nicht so. seien sie anders. so wie der da. oder die da. oder wer auch immer. ich meine sagen sie doch endlich einfach ja zum großkapitalismus. was verkündet diese marx&engelserscheinung da auf dieser litfaßsäule der erkenntnis? der heiland wird kommen und er wird sein eine sojabohne? nehmt hin diese tofuwurst denn sie ist ein nährstofftechnisch vollwertiger ersatz für meinen leib und diesmal dürfen sie ausnahmsweise mal dran glauben und nicht immer nur die armen tiere. das ist ja schön. das ist ja eine gute Nachricht und etwas woran man sich festhalten kann um nicht zu verfallen mitsamt der guten alten werte und der papiere auf den sie stehen. sie haben ein herz aus gold na sehen sie ein guter mensch zu sein zahlt sich eben doch aus auf diesem jahrmarkt der einsamkeiten ich meine gemeinheiten ich meine gemeinsamkeiten. vertrauen darauf dass eine bessere welt möglich ist und dass man selbst maßgeblich dazu beitragen kann ist gut aber lebensmittelkontrollen sind meist besser. nicht das sie sich noch aufessen vor lauter liebe zu sich und ihren ganz eigens für sie von ihnen selbst ausgedachten überzeugungen. so einen dicken roten seidenen faden zu verlieren wär' schon ein kunststück. und auch wenn diese masche nicht von pappe ist einen pullover kriegt man so nicht für die welt gestrickt zumindest keinen aus echtem wollen. wenn man schon so weit nach links abdriftet beim abfahren in dieser graphisch nicht und nicht darstellbaren demokurve muss man sich eben vermitteln können. ganz einfach. kocht ihnen da nicht auch der kopf über vor gerechtem zorn immer wenn sie hören wie irgendwo wo auch immer diese armen und diese armen kinder also die kinder dieser armen hungern müssen? wie da ist sogar etwas von ihrem herzen in diesen spendenteller hier übergeflossen? man gibt ja so gerne und wenn es nur der eigene schmerz oder ein anderer schlechter scherz ist. also auf zum angriff auf das geschlecht des menschengeschlechts. ein kopfstein und ein trostpflaster. und bitte gebt mir ein pamphlet dazu zu diesem punkrock damit ich ihn da einwickeln kann nicht das meine schicke hose noch dreckig wird. in einem land in dem menschen verbrannt werden werden bald auch menschen verbrannt. Auf diesem Blatt steht: das steht auf einem anderen blatt. sie haben die kellertür zu ihrem herzen nicht zugemacht als es noch ging und jetzt haben sie den gemischten salat und dürfen nicht mal mehr aussuchen ob mit oder ohne zwiebeln. ja mein schatz du siehst dick aus in dieser form von widerstand gegen den westlichen imperialismus und die erhöhte polizeipräsenz in bundesdeutschen innenstädten. und nein diese erhobene faust ist ein für alle mal gestrichen von der gestenliste. glauben sie uns wir können nicht aufhören mit diesem effekthaschisch. es tut uns leid aber wir können nicht einfach unseren mund halten denn sonst müssen wir wieder anfangen nachzudenken über dieses häppchening hier das wir unser leben nennen. und das hält man nicht aus das hält man doch einfach nicht aus.
das grillfest steht
III. wir gehen kaputt. kommt ihr mit?
Jetzt wird gegessen.
so
so
oder so
wir sind jetzt bei euch
glücklich
seid ihr glücklich
wir sind es
nicht
die trennung hat nicht stattgefunden
und während wir versucht haben etwas zu tun
habt ihr längst etwas mit uns getan
ihr habt uns etwas angetan
und wir straucheln
wir torkeln
und wir wissen
wir werden den mangel behalten
müssen
wir lassen los
wir haben nichts mehr loszulassen
das makeup ist zerlaufen
und unter der schmiere kann man
sie sehen
unsere langweiligen gesichter
das hier hat mit uns zu tun
uns allen
da können wir nichts mehr machen
wir sind da
wir werden da gewesen sein
und wir sind da selber schuld
wir sind da
mit händen
mit fingern
an den nichts klebt
ringen wir
mit worten
wir sprechen
wir sagen
die flugzeuge sind entführt
die gefühle sind verletzt
die herzen sind gebrochen
alles ist verloren
alles ist nicht verloren
es geht nicht um uns
es geht nicht um euch
es geht nicht
wir sind da
alle
die trennung hat nicht stattgefunden
es ist nichts geschehen
wir sind da
wir sind bei euch
wir sprechen
wir sprechen
für euch
liebt uns
bitte
liebt uns
die trennung hat nicht stattgefunden
und zusammengewachsen bleibt
was nicht zusammen gehört
und jetzt
jetzt geht es weiter
wahrscheinlich
der körper zerfällt nicht
zwangsläufig
Samstag, 27. Dezember 2008
Willkommen
Habe endlich die "Satanischen Verse" gelesen: starke Bilder, interessanter Satzbau, schöne Korrespondenz mit Michail Bulgakows "Der Meister und seine Margharita", übrigens auch eines meiner Lieblingsbücher und das schon seit 1989, im moment sehr in Mode, und Mulischs "Entdeckung des Himmel".
Donnerstag, 25. Dezember 2008
So, da bin ich also auch
Hier etwas, was in diesem Moment mir in den Kopf kommt. Ich glaube es ist Lyrik, oder so etwas ähnliches (frei nach der Definition: Wenn am Zeilenrand noch Platz ist, ists Lyrik).
Der warme Wind kühlt nicht deine
Holunderlimonade
Das Wasser frisst an den Pfeilern bald
gibt es diesen Steg nicht mehr
Die Sachen, die dir durch den Kopf gehen
Ja, was sind das eigentlich für Sachen?
Du trinkst
Du schluckst
Schön, dieser Untergang der Sonne
Warten auf die Christkinder
Habe die Einstellung gefunden, dass jeder Leser auch schnell anonym einen Komentar abgeben kann.
Samstag, 20. Dezember 2008
Wachkoma
stehst du auf
rollender Treppe,
dumpfes Summen
langsam aufwärts, abwärts,
mattes Licht.
Klischee klafft im offenen Mund.
Wer zog die Notbremse?
Ein Ruck.
Freudige Füße trappeln
ungestüm die Treppe empor.
Neonröhren funkeln hell.
Montag, 15. Dezember 2008
Dichtung und Wahrheit
Werde auf jeden Fall noch mal alles sortieren und dann schauen, wo es sich lohnt etwas einzusenden.
P.S. Zeitproblem ist gelöst, war noch die Pazifische eingestellt.
Samstag, 13. Dezember 2008
Diskontinuität, Winterbild
Die Uhrzeiten der Posts stimmen nicht, warum auch immer. Die Zwillinge machen weiterhin keine Anstalten zu kommen, d.h. ich bleibe in "Lauerstellung". Im Lichte der Kinder komme ich nicht umhin einen Blick auf die scheinbare Kontinuität meines Lebens zu werfen. Doch niemand kann einem so fremd werden, wie man selbst. Ich habe weder den Willen, noch die Fähigkeit mein Leben in das Korsett einer illusionären Kontinuität zu zwängen, ich würde mich sogar zu manchen Zeiten nicht einmal kennen lernen wollen, nicht aus Abneigung, sondern aus Desinteresse.
Es gibt Schnee und ich habe einen Handy-Schnappschuss gemacht, der "lyrisch" genug ist, um hier seinen Platz zu finden. Außerdem kann ich so mal versuchen ein Bild zu posten.
Scheint zu klappen, nur dass das Bild an den Anfang des Post rutscht.
Es wird Zeit, dass ich mich wieder über aktuelle Wettbewerbe informiere, denn die letzte Einsendung ist schon eine ganze Weile her.
Rostislav hat gerade kein Netz (Anbieterwechsel) und Rose steigt aus zeitlichen Gründen erst im Februar ein.
Bin schon auf die angezeigte Uhrzeit gespannt.
Sonntag, 7. Dezember 2008
Statt Kurzvita
Donnerstag, 4. Dezember 2008
Zwillinge und eine Geschichte zu Heimat
Nun also zum Experiment mit dem längeren Text:
Mutterboden
Er war spät dran. Sie würde schon auf ihn warten. Ein letztes Packet hatte er noch auszuliefern, dann hätte er die heutige Tour überstanden. Vor seinem geistigen Auge sah er Frau Nold, knapp 90 Jahre alt, wie sie ihn, in der Mitte ihres chaotischen Zimmers stehend, erwartete: klein, schlank und agil, mit am Körper anliegenden gestreckten Armen, fast militärisch. Von unten würde sie fragend zu ihm aufschauen und auch im Gespräch würden ihre Arme ihre gestreckte Position nicht verlassen.
„Das darf doch nicht war sein, es hat geblitzt“ schimpfte er laut, bremste den Kleintransporter und bemerkte sofort, dass er in eine Stadt bekannte Radarfalle gefahren war. Er hatte einen Moment nicht aufgepasst. Dies war das zweite Mal innerhalb eines Monats. Das konnte ihn den Job kosten. Er fuhr rechts ran und hämmerte einige Male mit seinen Fäusten auf sein Lenkrad ein. „Warum?“, schrie er so laut, dass er einen Hustenanfall bekam. Vergeblich versuchte er sich zu beruhigen. Wer würde ihn noch einstellen mit seinen 46 Jahren, dicklich wie er geworden war, mit den grauen Haaren, die ihn älter erscheinen ließen. Als Harz IV-Bezieher würde er seine Wohnung nicht halten können. Zitternd setzte er seinen Lieferwagen wieder in Bewegung, lieferte das Packet aus und stellte den Wagen auf dem Firmenparkplatz ab. Glücklicherweise zählte er heute zu den Letzten, so dass er nur wenigen Kollegen ausweichen musste. Was sollte er tun? Er musste wieder zum Blitzer, vielleicht würde ihm dort etwas einfallen.
Da er die letzten Meter zu Fuß gehen wollte, verließ er schwitzend die Straßenbahn. Als er seinen Magen spürte, musste er an ihren Hunger denken. Er war fast zwei Stunden über der Zeit und hatte noch nicht einmal eingekauft. Trotz ihrer Lebhaftigkeit hatte Frau Nold ihre Wohnung seit über einem Jahr nicht mehr verlassen. Nachdem sie bei Kriegsende aus Siebenbürgen geflohen war, wurde sie in Deutschland nie richtig heimisch; wahrscheinlich wurde sie auf Grund ihres hartnäckigen Akzentes ausgegrenzt. Irgendwann war sie dazu übergegangen sich selbst abzukapseln. Er empfand ihre Wohnung mit den zahllosen Stapeln aus Büchern, Zeitschriften und Prospekten immer als eine Art Schutzburg. Jetzt würde sie hungrig sein. Schon gestern hatte sie keine Vorräte mehr, und er vermied es auch bei ihr welche anzulegen, da er Lebensmittel nicht selten Monate später hinter einem der Zeitschriftenstapel in ungenießbarem Zustand wieder fand. Schweißnass erwachte er aus seinen Gedanken. Er hatte die Kreuzung passiert und näherte sich dem Blitzer. Langsam, als ob er etwas auf dem Boden suchte, ging er an ihm vorbei, während er ihn aus den Augenwinkeln gründlich musterte. Der gehasste Kasten befand sich etwa in zwei Meter Höhe und schien sehr massiv zu sein. Der wundeste Punkt würde wohl die Stange sein, auf der der Kasten mit dem Film montiert war. Im Moment, ohne Werkzeug, konnte er nichts tun. Immerhin dämmerte es schon. Der Herbst zeigte sich von seiner vorteilhaften Seite.
Zu Hause durchsuchte er panikartig die Besenkammer nach passendem Werkzeug. Seinen knurrenden Magen ignorierend, betrachtete er eine Handmetallsäge. „Zu langsam“, dachte er. Dann fand er, was er gesucht hatte: die Flex mit Benzinmotor. Der Tank war gut gefüllt. Allerdings reinigte er den Trennschleifer gründlich mit Spiritus, um Fingerabdrücke zu vermeiden. Wer konnte schon wissen, wie diese Nacht weiter verlief. Von weitem bemerkte er das penetrante Blinken seines Anrufbeantworters. Frau Nold würde bereits mehrmals angerufen haben. Im Moment hatte er keinen Kopf für sie, wenigstens einmal musste sie ohne ihn zu Recht kommen. Zum ersten Mal ärgerte er sich über sie. Seit sich ihre Wege vor etwa drei Jahren in dem kleinen Supermarkt in der Nähe ihrer Wohnung gekreuzt hatten und er ihr die Tüten nach Hause getragen hatte, war sie zu einem Lebensinhalt geworden. Während er noch eine alte Sporttasche für die Flex suchte, hielt er inne: diese diffuse Befriedung darüber, dass sie ihn brauchte, erschien ihm plötzlich schal, fast peinlich. Er hatte sonst nichts zu tun gehabt. Er würde sie also nicht anrufen, sondern lieber selber noch eine kleine Stärkung zu sich nehmen. So nervös wie er war, musste er sich zwingen überhaupt etwas zu essen. Er zog sich seine alten Lederhandschuhe an, packte die Flex in die ausgeleierte Sportasche und machte sich auf den Weg. Es war kur vor eins.
Sobald er am Blitzer angekommen war, packte er den Trennschleifer aus, warf ihn an und machte sich an die Arbeit. Vereinzelt fuhren noch Autos vorbei und der Lärm dröhnte in all seinen Gliedern. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Polizei riefe. „Auch 60 Jahre nach Hitler, hat dieses Land noch tausend Augen“, pflegte Frau Nold immer zu sagen. Da er den Trennschleifer so hoch wie möglich hielt, spürte er zunehmend das Gewicht der Maschine. Er zitterte, biss erst die Zähne aufeinander, schrie dann gegen den Lärm an, doch bei 12000 Umdrehungen pro Minute war der Mast schneller als erwartet durchtrennt. Der Blitzerkasten fiel krachend zu Boden. Gerade noch rechtzeitig konnte er seinen Fuß zurückziehen. Den Kasten packte er so in seine Sporttasche, dass das letzte Stück des Masts herausschaute. In der Ferne hörte er schon das Martinshorn. Es war höchste Zeit zu verschwinden. Den Trennschleifer ließ er zurück, denn er war vor so langer Zeit gekauft worden, dass er damit keine Spuren hinterlassen würde. Glücklicherweise war der Waldrand nicht weit und er schlug sich in das Unterholz. Der Schweiß triefte seine Stirn hinab und drohte ihm die Sicht zu nehmen. „Als ob der Wald nicht schon dunkel genug ist“, fluchte er. Warum war der Blitzer so schwer? Warum war er so ein verdammter Schwächling? Wie hätte er denn im Mittelalter überlebt. Er musste diese Tasche tragen können. Er nahm sie in seine Arme, drückte den Kasten mit dem verräterischen Foto an die Brust, musste aber trotzdem immer wieder absetzen. Sein ganzes Leben lang hatte er nicht auffallen wollen. Er arbeitete, sparte Geld für später, auch wenn er von diesem Später keine konkrete Vorstellung besaß. Etwas wie Gefängnis war darin allerdings keinesfalls vorgesehen. Wie im Fieberwahn schleppte er sich und die Tasche weiter. Im großen Bogen näherte er sich dem Fluss, musste aber schließlich den Wald verlassen. Während er sich an die Nebenstraßen hielt, bemerkte er, dass sein Blickfeld sich merkwürdig verzerrte. Er musste sich in einer Art Trance-Zustand befinden. Seine Muskeln spürte er nicht mehr, nur in seinem rechten Knie ließ sich ein deutliches Stechen vernehmen. Endlich stand er auf einer Brücke über den Fluss. Weder Mensch noch Auto waren zu sehen, er konnte den Kasten also ins Wasser fallen lassen, ein lautes Aufklatschen, ein Gurgeln, dann Stille. Er drückte die Tasche zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Erleichterung und ein Gefühl der Freiheit breiteten sich schlagartig in ihm aus. Da erschien ihm wieder Frau Nold, in ihrem Zimmer stehend, wie sie ihn anschaute.
Die wenigen Nachstunden, die ihm geblieben waren, schlief er wie ein Stein. Mühsam quälte er sich morgens aus dem Bett, nur kurz hoffte er, dass die letzte Nacht nichts als ein böser Traum gewesen sei. Was würde Frau Nold sagen? In welcher Verfassung würde sie sein? Hatte sie sich dazu durch gerungen bei jemand anderen Hilfe zu suchen, und wenn ja, was würde das für ihn bedeuten? Sollte er überhaupt noch hingehen, wenn das Helfen ihm keine Befriedigung mehr geben konnte? Während seiner Arbeit floss die Zeit nicht nur zäh vor sich hin, sondern er ertappte sich mehrmals dabei, wie er von sich aus langsamer arbeitete, um den Besuch bei Frau Nold herauszuzögern. Schließlich schlenderte er im Supermarkt die Regale entlang, verglich Preise und überlegte was er ihr mitbringen sollte. Er entschied sich für ein halbes Grillhähnchen, das sie immer gerne aß. Nachdem er die Haustüre zitternd aufgeschlossen hatte, stieg er das Treppenhaus hinauf. Obwohl hinter verschieden Wohnungstüren der dumpfe Klang laufender Fernsehapparate zu vernehmen war, begegnete er niemand, überhaupt, wurde es ihm bewusst, war er in diesem Treppenhaus noch nie jemand begegnet. Kurzatmig und schwitzend gelang es ihm nach mehren Anläufen, den Schlüssel in das Schloss ihrer Wohnungstür zu stecken und einzutreten. Sonst hatte er immer geklingelt um sich anzumelden. Zaghaft rief er ihren Namen und begab sich widerwillig ins Wohnzimmer. Da lag sie zu Seite gekippt über einem Haufen Zeitschriften auf ihrem Sofa. Sie sabberte. „Ich bin es, Frau Nold“ flüsterte er und schüttelte sie. Keine Reaktion. Hatte sie einen Schwächeanfall wegen Unterzuckers erlitten? Er horchte nach ihrem flachen Atem und legte seine Hand auf ihren Brustkorb. Sie lebte noch. Augenblicklich beruhigte er sich. Als er in diesem kleinen, nur notdürftig sauber gehaltenen Zimmer seine Blicke über das Chaos gleiten ließ, konnte er nur den Kopf schütteln: „Was mache ich bei dieser Greisin?“
Ihre Vögel waren aufgeregt. Er gab ihnen Wasser und Futter. Auf dem Sofatisch lag ihr Büchlein, dass gleichzeitig als Adress-, Notiz- und Tagebuch diente. Einen Moment lang war er versucht hinein zu schauen, doch er konnte sich ausmalen, was er dort lesen würde: Angst, Zweifel, Vorwürfe. Wahrscheinlich hatte sie sich sogar verraten gefühlt. Die ersten Anzeichen einer aufkeimenden Demenz waren schon erkennbar. Irgendwann würde sie vergessen, dass er schon da gewesen war und ihm Vorwürfe machen, später würde sie ihn nicht mehr erkennen und für einen Eindringling halten. Diese Vorstellung versetzte ihm, nach allem was er für sie getan hatte, einen Stich. Zu guter letzt würde er sie in einem billigen Pflegeheim unterbringen müssen. Alles was er in Zukunft noch für sie tun konnte, würde nur dazu dienen ihr zunehmendes Leiden zu verlängern; falls er wegen dieser Blitzergeschichte nicht sowieso in Knast und Arbeitslosigkeit enden würde.
Der richtige Zeitpunkt, um in Frieden gehen zu können, war gekommen. Er durfte nicht mehr eingreifen. Also kippte er das Fenster und öffnete den Vogelkäfig. Kühle Herbstluft drängte sich ins Zimmer. Ob die Vögel den Weg nach draußen fänden und dort überleben würden? Das musste er dem Schicksal überlassen. Er rüttelte noch einmal an Frau Nold, doch sie kam wohl nicht mehr zu sich. Sicherheitshalber spannte er das Telefonkabel um die Couchtischbeine und lockerte den Stecker nur leicht, so dass es aussehen würde, als ob sie zu stark am Telefon gezogen hätte und sich dabei der Telefonstecker gelöst hätte. Dann packte er ihr Büchlein ein, indem bestimmt auch die Kontakte zu ihm und vor allem seine Telefonnummer festgehalten waren. Unauffällig schlich er sich aus dem Treppenhaus und entfernte sich hastig.
Ist ja ganz schön klein geschrieben, nicht sehr lesefreundlich, aber lassen wir mal so.